Interview mit Prof. Joseph Hoppe, Leiter des Berliner Zentrum Industriekultur (bzi) und Partner der THF-Denkmalwerkstatt
Wie definierst du Industriekultur und worin liegt ihre Relevanz?
Industriekultur hat bislang viele Definitionen erfahren. Für mich ist Industriekultur alles, was an sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und immateriellen Hinterlassenschaften der Industrialisierung existiert. Das können einzelne Bauwerke, besonders herausragende Monumente oder auch Infrastrukturen sein. Aufgrund neuer Auseinandersetzungen würde ich auch Gefühlsdispositionen hinzufügen, die das Leben von Menschen über Generationen geprägt haben. Alle diese Elemente sind das Ergebnis einer jahrhundertelangen Industrialisierung bestimmter Regionen. Diese unverkennbaren Markierungen sind das, was mich daran interessiert: Was sagen sie uns heute? Wie reagieren wir darauf? Was bedeuten sie uns im Sinne von Last, aber auch im Sinne von Ansporn, Herausforderung oder Inspiration?
Du leitest das Berliner Zentrum Industriekultur und warst zuvor stellvertretender Direktor des Technikmuseums in Berlin. Außerdem entwickelst du Radtouren, die durch verschiedene industriekulturelle Routen führen. Woher kommt dein großes Interesse an diesem Thema?
Ich finde es interessant, wenn an bestimmten Orten über Jahrzehnte oder manchmal mehr als ein Jahrhundert lang Menschen sehr produktiv tätig gewesen sind, Unternehmen erfindungsreich Dinge entwickelt haben, Einrichtungen wie Flughäfen oder Bahnhöfen erfolgreich funktioniert haben und dann die bisherige Nutzungsform mit einem mal endet. Die Frage ist ja: Welches Erbe tritt man da an? Das ist ja nicht nur eine Erbschaft im Sinne von Daten, Fakten und Narrativen, sondern es gilt herauszufinden, wie man solche Orte weiterentwickeln und sie in eine postindustrielle Nutzung überführen kann. Ziel ist es, dass solche Industriebauten nicht auf einmal fremde Orte werden, sondern in ihrer bisherigen Vertrautheit Teil eines sich neu formierenden Gemeinwesens werden. Diese Prozesse zu erforschen und zu vermitteln – darin liegt mein persönliches Interesse.
Warum sind Orte wie das Berliner Zentrum Industriekultur und dessen Arbeit heute noch relevant, wenn die Industrialisierung im Wesentlichen hinter uns zu liegen scheint?
Da würde ich widersprechen: Die Industrialisierung liegt nicht hinter uns, sie findet momentan nur in anderen Teilen der Welt statt und erlebt generell immer wieder neue Phasen. Industrialisierung ist kein nationales, sondern ein globales Phänomen. Wenn in vielen Ländern in Europa eine regionale Deindustrialisierung stattfindet, dann findet zeitgleich andernorts auf der Welt in Südamerika, in Südostasien, teilweise in Afrika, ein massiver Aufbau von Industrien statt. Ein Beispiel: Deutschland hat früher alle seine Textilien selbst produziert und exportiert. Heute kommt der Großteil unserer Kleidung aus China oder Bangladesch zu uns. Trotz der Verlagerung der Produktion wird ja nicht weniger Kleidung getragen. Die Industrialisierung ist nicht abgeschlossen, sondern befindet sich vielmehr in einem globalen Transformationsprozess.
Welche Aufgabe übernimmt das Berliner Zentrum Industriekultur in diesem Zusammenhang?
Das bzi befasst sich beispielsweise nicht nur mit Berlin, sondern auch mit anderen Teilen der Welt. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, Wissenssicherung und Erinnerungsarbeit zu leisten. Dies umfasst die Untersuchung von historischen Produktionsstätten und deren Transformation in postindustrielle Nutzungen, um sie als Teil eines neuen Gemeinwesens zu integrieren. Wir untersuchen, wie industriekulturelle Prägungen sich als Markierungen ins Stadtbild eingeschrieben haben. Nicht nur die industrielle Nutzung selbst, sondern das, was sie hinterlässt, ist für uns von Interesse. Viele dieser geschichtlichen Prägungen werden auch verdrängt und vergessen, obwohl sie nach wie vor für alle sichtbar sind. Das bzi betreibt im Grunde genommen Wissenssicherung und Erinnerungsarbeit. Wir dokumentieren erfolgreiche Transformationsprozesse aus der Industriekultur und vermitteln das Wissen darüber.
Wie wird diese Erinnerungskultur in Berlin gelebt?
Das Wissen über Industriekultur und post-industrielle Transformationsprozesse ist in Berlin deutlich weniger bekannt als beispielsweise im Ruhrgebiet oder in Sachsen. Berlin war einst die größte Industriemetropole Europas. Es gibt hier ein großes industriekulturelles Erbe. Dieses Potenzial ist manchmal so groß, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Zur Verdeutlichung: Wir bereiten gerade die achte Radtour zu verschiedenen Themen der Berliner Industriekultur vor und finden immer wieder neue Aspekte und Erzählfäden.
Kannst du Beispiele erfolgreicher Transformationsprozesse in Berlin nennen?
Erwähnenswert ist die GSG, die größte Gewerbeimmobiliengesellschaft der Stadt. Sie verwaltet über eine Million Quadratmeter Gewerbeflächen, die häufig denkmalgeschützt sind. Diese Immobilien werden nach umfassenden Renovierungen erfolgreich nachgenutzt und sind extrem attraktiv wegen ihrer besonderen ästhetischen Mischung aus Ruppigkeit und Charme. Ein weiteres schönes Beispiel ist das Atelier Gardens, wo klassische Filmstudios revitalisiert wurden. Ein qualifizierter Investor entwickelt dort ein Quartier mit alten und neuen Gebäuden, das als Biotop für neue Investitionen dient. Und soweit ich das beobachtet habe, funktioniert das ganz wunderbar. Auch die Malzfabrik ist ein tolles Beispiel. Trotz ihrer Unzugänglichkeit hat der Immobilienentwickler Real Future unter der Leitung von Frank Sippel ein Konzept entwickelt, das dem Ort neues Leben verleiht. Es bietet vielen Menschen Arbeitsmöglichkeiten und der Region ein neues Wahrzeichen.
Das bzi ist auch Partner der Denkmalwerkstatt am Flughafen Tempelhof und du selbst gestaltest aktiv die THF-Denkmalprozesse mit. Was ist deine Perspektive auf den Flughafen Tempelhof und was wünschst du dir für dessen Zukunft?
Der Flughafen Tempelhof ist ein faszinierender Ort, der von einer Janusköpfigkeit in seiner Architektur und Geschichte geprägt ist. Er verkörpert sowohl Elend und Verbrechen als auch Freiheitsversprechen und Glamour. Momentan wirkt er allerdings wie eine unzugängliche Burg. Flughäfen sollten doch aber Transmissionsräume sein, die Bewegung steuern und erzeugen. Mein Wunsch für Tempelhof ist, dass er wieder ein Ort der Bewegung und Energie wird, der Strahlkraft in seiner Region hat und seine markante Präsenz auslebt. Ich würde mir wünschen, dass THF eine bedeutende Rolle in der Postindustrialisierung einnimmt, wo das energetische Potential des Ortes wieder relevant wird. Das Schrecklichste wäre, wenn er nur musealisiert und zu einem reinen Objekt für Führungen wird. Denkbar ist vieles: Zum Beispiel könnte THF auch wieder ein Ort für postfossile Luftfahrt werden, mit batterie- oder wasserstoffbetriebenen kleinen Flugzeugen, die keine großen Start- und Landebahnen mehr benötigen.
Was gibt es für Angebote in Berlin für Menschen, die sich für Industriekultur interessieren?
Ein guter Startpunkt ist die bzi-Website. Eine interaktive Karte führt dort mittlerweile etwa 150-160 Orte der Industriekultur in Berlin auf. Man kann sehen, was es in der eigenen Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz gibt. Es gibt Informationsmaterial und Links, um diese Orte weiter zu erkunden. Dann gibt es unsere Radrouten. Man kann die Flyer downloaden oder bei Komoot herunterladen und verschiedene Radtouren ausprobieren. Mein Tipp wäre die Route „Eisenbahn und Landebahn“, die auch den Flughafen Tempelhof berührt, oder „Wasser und Strom“, bei der man nach Schöneweide fährt. Alles super Routen, die ich jedem empfehlen kann. Dann empfehle ich, den bzi-Newsletter zu abonnieren, über den man alle zwei Monate Einladungen zu relevanten Programmen bekommt. Und wem das noch nicht reicht, soll mich einfach anrufen.